Mittwoch, 2. September 2009

Mein Tibet - Abschnitt Fünf - der Text

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Kapitel Zwölf der Weg zur vollen Bewußtheit, Klarheit, Offenheit
Wo das Spiti-Tal weit ist, haben sich seit undenklichen Zeiten von den Bergen Schottermassen herabgerollt, das Tal besteht aus Felsstürzen und riesigen Schotterhängen, unten der Fluß, mal ist das Tal etwas breiter und lässt einem kleinen Städtchen wie Tabo mit Landwirtschaft Raum — da wollen wir noch hinwandern. Denn das sind diese Siedlungen der Spiti-Nonnen und Mönche, die diese alten Klöster mit ihren kostbaren Gemälden und Buddha-Hallen pflegen, wie auch Nako. Die Buddha-Hallen sind ja die Plätze der Stille, der Hinwendung zu Buddha, wenn du in seine Augen siehst, findest du leicht den Weg in dein eigenes Innere. Wie er sagte, sind seine Augen nur der Weg zu dir selbst.

Wegen dieser Klöster wandern wir ins Spiti-Land. Und wie viele Reisende hier, besuchen wir fast alle Klöster am Weg und sitzen lange in den Buddha-Hallen. Nicht wegen der Schönheit, nicht wegen eines Kunstgenusses, sondern hier hat sich seit sehr langen Zeiten eine Stimmung der Einkehr, der Meditation gebildet. Und die suchen wir auf. Mir fällt ein, daß die Pilgerin aus Kerala hier vielleicht ihren Platz finden könnte.

Nako liegt auf einer hellen Stelle, ein flacher Hügel zwischen tiefen Tälern und hohen Bergfelsen, ein See davor, viele Felder rund herum, Pappeln und auch Obstbäume. In Nako gibt es ein paar sehr alte Tempel, die ich schon seit langen sehen möchte, nun sind wir angekommen.

In einem Häuschen gibt man uns Unterkunft, wie üblich auf dem nackten Boden, aber doch  . . .  unter einem Dach. Das ist auch mal schön, für mich jedenfalls, doch Tsering zieht es nach einiger Zeit unruhigen Schlafs wieder nach draußen, er murmelt, „das ist mir hier zu eng, enger als in meinem Zelt.“ Morgens sagt er, „meistens sind mir auch unsere nomadischen Zelte zu eng, ich schlafe lieber draußen, eingewickelt — und zusammen mit einem schönen Menschen in einem großen Fell,“ und er sieht Li an, die still nickt: „Ja, ich bin schön, du aber auch, ebenso.“

In Nako — erst ein paar einfache Tempelchen, von außen schlicht und würfelartig. Doch innen: dies ist das erste, was uns an geistigen Bildern im Spiti-Land begegnet: Diese uralte Malerei hat und hatte schon immer eine große Bedeutung für die Gesundheit der Menschen — für die Gesundheit ihres Wesens [so übersetzen wir statt Seele oder Psyche], und als Folge eines gesunden Wesens auch in ihrem Körper — und im ganzen Volk. Diese Malereien sind Programm, nicht gemeint als Kunst oder Schönes. Es ist hier so wie in Tsaparang, wo uns die Sterbehelferin über die Aufgabe dieser Bilder im Leben der Menschheit unterrichtete — und auch fürs Sterben und schließlich für ein neues Erscheinen im Leben — Wiedergeburt sagen die Leute ja auch.

Doch hier in den Nako-Tempeln geht es mehr um das Lebendige. Tsering mit seinem Blick für das Weibliche weist auf eine gold-gelbe Frauenfigur an der Wand umgeben von bunten Fantasietieren. Uns wird gesagt, daß dieses die Göttin Pradschnaparaamita darstellt, `Erkenntis´, und daß spirituelle Erkenntnis zu den Aufgaben der Frauen gehört — „und der Jugend,“ sagt Tsering und zeigt lächelnd auf sich. Das Bild: inmitten der etwas unruhigen Tiere und unter einem häßlichen Dämon-Gesicht ruht diese Frau in sich und kann deswegen das Leben erkennen — „und deswegen ist sie eine Göttin.“ Li fühlt sich bei diesem Bild zuhause, „ja, Frau zu Frau,“ lächelt sie.

Eine Frau aus dem Nordosten Tibets, die ebenfalls hierher pilgert, erklärt, „nein, heute ist das nicht mehr ein Symbol der Frau, der Aufgabe der Frauen. Sondern es ist das Weibliche im Menschen überhaupt. Männer haben es ebenso. Sieh dir nur deinen Jungen an,“ — sie meint Tsering — „wie viel Weibliches er ausstrahlt aus der Mitte seiner aufquellenden, neuen Männlichkeit. Sein Männliches wird sich über seine weibliche Mitte hüllen und sie verbergen und nur gelegentlich rausscheinen lassen.“ Ich fühle mich auch gemeint mit dieser Beobachtung, weiß von meiner eigenen, inneren Weiblichkeit ebenso, lebe sie, wo es mir behagt — doch zu anderen Zeiten auch mein Männliches.

Wir setzen uns in die Sonne auf einen Steinklotz, den sie hierher geholt hatten um eine Statue daraus zu meißeln. Sie haben hier große Statuen von Bodhisattvas, beispielhafte Menschen aus früheren Zeiten, die sehr vollendet waren. Die Frau sagt uns:

„Das ist uns doch wichtig: wir lernen von Bodhisattvas, von deren Erfahrungen, auch Schriften. Sie haben den ganzen Weg schon lange hinter sich, haben gesehen, was sie mal behinderte am Erwachen („Erwachsen-Werden sagen manche“ sagt sie lachend), sind mit Erfolg die Pfade gegangen, auch Irrpfade, erfolglose Seitenpfade  . . . “ Das ist ja zentrales Thema dieses Volkes: das Erwachen. Für jeden ... und jeder junge Mensch hat das wieder vor sich. Immer wieder von Neuem. Auch wenn sie — wie sie denken — immer wieder von Neuem in einen anderen Menschenkörper, in ein frisches Menschenleben hineingeboren werden: immer wieder steht da diese Herausforderung vor ihnen: Erwache, sonst lohnt es sich nicht. „Da gibt es Hilfe: die Bodhisattvas.“ Was ist damit gemeint? — das habe ich schon beschrieben im 10. Bericht `Boddhisattva´, so wie ich es verstehe.


Da sind die alten Tempel, die Gaben Nakos an die Besucher. Doch sie haben auch eine neue Kultstätte:

Nachdem Guge — dieses alte Reich im Westen Tibet´s, und Spiti gehörte dazu — zerfallen ist, und das meiste der alten Tempel auch zerfallen, haben diese Gegenden von Spiti und Umgebung die Rolle übernommen, für Tibet — wozu sie ja gehören — Vorbild zu sein für eine heilsame Kultur.
Die ganze Gegend nennen sie Spiti, wohl nach dem Namen des Flusses.

Wenn wir auch bisher nur karges und wüstes Land durchwandert haben: hier ist es außerdem noch traurig, grau, an manchen Stellen düster, wo der Weg durch tiefe Schluchten führt, ja manche Ansiedlungen haben sie in diese Schluchten gebaut, wir verstehen nicht, was die Leute dazu veranlasst hat. Und dann wieder finden wir weite, lichte Täler, in beigen Farben — und so hell, daß hier die Weidenbüschchen auf den Schutthängen wachsen. Und rote Blumen selbst in Herbsttagen und in warmen Wintern, da, wo die indische heiß-Sonne ein wenig hinstrahlen kann und die indische Luft hinweht.

Der Spiti-Fluß ist anders als der Langtsch-hen: weißliches Hellblau, er bringt Schmelzwasser von den Gletschern, von beiden Seiten: gewiß 15 Gletscher entwässern in den Spiti, sagen mir die Leute. Unser Ziel ist das Städtchen Tabo, es liegt zwischen hohen felsigen Bergen, fast kein Grün da oben, nur kahles Grau und manchmal beige, ja und skurrile schwarze Felsen. Wie ich an einem Weg sitze und solche Felsen zeichne und Tsering auf einem Stein sitzt und fast schläft, und Li an einem Felsen lehnt und das öde Land beobachtet, hören wir auf dem Pfad Getrappel, und um die Ecke kommen ein Pferd und etwas danach zwei Esel, und auf dem Pferd sitzt ein Junge mit hochgezogenen Beinen, kunstvoll balancierend.

Bild 34: Im Spiti-Gebirge, ein tibetischer Junge auf seinem Pferd

Wie er uns sieht, wickelt er sein Gho um die Knie, balanciert aber weiter auf dem Pferderücken und lenkt elegant mit einem kurzen Seil sein Tier und hält bei uns an.

Tsering wacht auf und freut sich, einen gleichaltrigen Burschen zu treffen, und gleich fangen sie an zu schnattern. Der andere spricht auch tibetisch, aber es ist so anders, daß ich es nicht verstehen kann, Li auch nicht. Er hat keine Schuhe und Strümpfe an, und wie Tsering seine nackten Beine sieht, zieht er seine Strümpfe auch sofort aus, „es ist doch so warm hier“  . . .  und läuft auch barfuß weiter. Der andere ist auf dem Weg nach Khab, wo seine Schwester wohnt, erzählt er uns (Tsering muß übersetzen), und er will ihr einen Strauß bunter Vogel-Federn bringen, die er uns zeigt. Ich denke, weil es hier kaum Blumen gibt, schenken sich die Leute bunte Federn. Die Blumen sind so selten, da lässt man sie lieber stehen und wartet bis den Vögeln Federn ausfallen.

Es mag hektisch klingen, wenn ich erzähle, daß wir fast alle Klöster am Weg aufsuchen. Doch es ist mir, daß diese ganze Linie von Buddha-Hallen eine einzige langgestreckte Buddha-Halle ist. Eine Buddha-Halle ist mir wie ein Segen — auch wenn die Materialisten und die heutigen Konfuzianer auch darüber lächeln.

Der Weg geht ja dicht oder auch entfernt enlang des Spiti-Flusses, auf seiner östlichen Seite. Manchmal biegt er weit in die Berge hoch, wenn der Fluß durch eine Schlucht fließt. Irgendwo hat das Spiti-Tal eine scharfe Biegung nach Westen, und wir laufen nun parallel zum Nordufer. Hier beginnt das eigentliche Land Spiti — obwohl schon das Tal unterhalb Nako Spiti genannt wurde, wenn wir Reisende befragten.

An dieser Biegung aber mündet ein anderer Fluß, der Paré-Tschu, der auf weitem Umweg aus Ladakh´s Bergen kommt, wie mir jemand auf einer Karte zeigt. Hier finden wir — nahe dem Dorf Sumdo — eine eigenartige Fähre über den Paré-Tschu.


Bild 35: die Schwebefähre über das Paree-Tschu-Gewässer

Es ist dieses hier eine besondere Stelle, denn dieser Seitenfluß, der Paré-Tschu-Fluß bringt in unregelmäßigen Abständen schwere Hochwässer, weil da eine Stelle in den Bergen ist, wo Bergstürze den Fluß immer wieder aufstauen und einen See bilden. Doch nach ein paar Monden bricht diese Dämmung wieder, und der See leert sich mit Kraft in den Fluß . . .

. . .  in den Fluß Spiti — sowohl flußaufwärts von Sumdo bis weit jenseits von Tabo, wie noch mehr abwärts (seht auf die Karte 37) — und schließlich bei Khab in den Satletsch. Den Satletsch fließt dieser Schwall auch wieder weit flußaufwärts (so stark ist er manchmal) durch den Himalaya-Einschnitt durch, dahin, wo wir herkamen (in manchen Jahren noch mehr flußaufwärts als nur zum Schipki-Dorf) — und natürlich noch mehr flußabwärts bis fast ins Tiefland des Hindu-Tales, erst dort verliert sich seine Wirkung. Auf diesem Weg gab es in früheren Jahrhunderten immer wieder viele Flutschäden und Tote — bis die Bewohner gelernt hatten, sich den Naturgegebenheiten anzupassen und nicht mehr gegen sie anzugehen — was doch nichts hilft — und sich weit oberhalb des Flußlaufes anzusiedeln.

Drei Jahre oder viel länger dauert die Ruhepause, selten kürzer, dann kommen wieder diese sehr hohen Hochwasser, meistens sehr plötzlich, wie eine Welle soll es dann kommen. Wegen dieser häufigen und zerstörerischen Hochwasser gibt es nun keine niedrigen Brücken mehr über den Paré-Tschu, den Spiti und den Satletsch, sondern nur noch solche, die so hoch sind, daß die Hochfluten sie nicht wegschwemmen können, was früher oft passiert ist. Um es einfach zu haben, hängten die Bauleute solche Brücken über die engsten Schluchten wie die Schwebefähre über den Paree-Tschu, und die Wege führen da hinauf.

Nahe der Mündung des Paré-Tschu in den Spiti haben sie also diese eigenartige Fähre. Eine besondere Art von Fähre: sehr weit weg vom Flußufer stehen hohe Eisenmasten, die allseitig in den Felsen mit Eisenseilen fest verankert sind, und von der einen zur anderen Seite sind zwei dicke Eisenseile zwischen die Masten gespannt, auf denen eine Schwebebahn mit Rädern fährt. Die Ladefläche dieser Bahn ist so groß, daß etliche Lasttiere darauf stehen können. Da die Tiere leicht Angst bekommen können, sind ein paar Begleiter tätig, die es verstehen die Tiere zu beruhigen. Auch Tsering hat zuerst Angst, doch dann will er immer wieder fahren, und er verdingt sich für ein paar Tage als Tier-Beruhiger.

 Bild 36: Tsering auf der Fähre, Yak beruhigend

Wie fahren sie denn diese Schwebefähre? Auch dafür haben sie ein paar Leute, die an weiteren Seilen das Gefährt rüberziehen, was bei den häufigen heftigen Winden kaum gehen mag, denn so ein Sturm in den engen Tälern ist so wirbelig, daß die Fähre allerlei drehende und schwankende Bewegungen macht. So sehr, daß Tiere nicht mitfahren können, und auch nicht alle Menschen. Nahe den beiden Enden der Fährbahn stehen ein paar Häuser für die Angestellten der Fährbetriebes, und auch jederseits eine kleine Karawanserei. Die Karawanserei am Südufer hat eine heiße Quelle in der Nachbarschaft, und so haben wir den besonderen Genuß eines heißen Bades bevor wir nach ein paar Tagen schließlich übersetzen.

Einer der Fährleute füllt uns eine große Wanne mit warmem Wasser und gibt noch duftende Öle dazu —, „besonders gut für Wanderer“ sagt er und freut sich. Der Badraum duftet, und unsere Körper hinterher auch, ein Genuß, der uns noch ein paar Tage begleitet.

Um Tabo und das ganze Tal von oben sehen zu können, empfehlen uns Leute, von Lari aus über die Pfade der Steinsucher zu gehen. Da ist es sehr kahl, trocken, meistens überragt von spitzen und bizarren Felsen, doch wo sich etwas Erde zwischen den Steinen und Felsen bilden und Feuchtigkeit sammeln konnte, gibt es ein paar Pflanzen, niedrige Weiden und Kräuter, sogar sumpfige Senken, in denen Schilf, ein paar bunte Blumen — Mohnarten und Enziane — wachsen. Nur wo das ganze Jahr über Wasser ist, wachsen die Pflanzen üppiger — wenn nicht immer wieder Tiere hinkommen und sie abfressen, doch das ist selten, weil die Leute solche schönen Plätze einzäunen.

Wir finden diesen Steinsucherpfad nach Tabo, der über einen Berg geht, und ziemlich auf der Höhe dieses Pfades ist — rätselhaft! — eine Quelle, das Wasser ist lauwarm, ein wenig Gebüsch und zwei oder drei Bäume stehen hier, und wir bleiben ein paar Tage und erholen uns nach den Klettereien über die Spiti-Berge. Ein paar Edelsteinsucher treffen wir, ausgerüstet mit Grabwerkzeug, Sieben, Beuteln, das alles ist auf ein paar Maultiere geladen. Es kommen auch eine Sucherin und ein Sucher gemeinsam, offensichtlich ein sich liebendes Paar. Diese nun fanden kaum Edelsteine sondern Versteinerungen, wie die Gehäuse von Schnecken und Ammoniten und dergleichen.

Später nähern wir uns Tabo, das Städtchen liegt unten im Tal, auf den angeschwemmten Terrassen an der Seite des Spiti-Flußes. Bevor wir von diesem Steinsucher-Pfaden hinabsteigen, finden wir wieder einen Felsvorsprung, wo wir zwei Tage bleiben und Tabo und das Tal von oben ansehen. Und auf diesen Terrassen da unten ist es grün, da bauen sie Obstbäume, Gerste und Gemüse an und haben ein paar Kühe wegen der Milch und dem besonderen Spiti-Käse, das alles können wir sehen — und von dem Käse haben wir schon in der Karawanserei in Schipki genossen, und Tsering war so hingerissen .  . . er rief, „so einen Käse müssten wir zuhause auch machen können.“

Von diesem Felsvorsprung aus können wir Tabo schon sehen, so wie es uns die Leute sagten. Grün und lebendig. Der ganze Gegensatz zu den grauen, beigen, dunklen, trauigen Schluchten und Felsen in der Umgebung. Hier ist DER Platz um ein Kloster im Sinne des lebensfrohen Buddha zu bauen, zu haben und sein Leben zu leben. Da stehen einige Gebäude der spirituellen Lehre, wie wir sehen, und es scheint, daß der Ort auch von Reisenden lebt, die hier die Buddha-Plätze aufsuchen.

Und hier zeichne ich das Bild 34 wie Tsering auf den Klippen steht und das Spiti-Tal bewundert. Ein warmer Wind weht von unten — wohl vom heißen Indien her — , und Tsering dreht sich um zu mir, „oh, wie schön es ist, diese warme Luft am Körper zu spüren, er weht mir ins Gesicht, an den Hals und unter den Gho und streichelt die Haut.“ Und er tanzt lachend am Rand der Klippe und lässt sein Gho und die Zöpfe fliegen und krempelt schließlich die Strümpfe runter. Tsering hat wie ich große Körperlust, er kann alles genießen, was seinen Körper berührt. „Die Lust am eigenen Körper ist doch das Höchste,“ sagt er voller Freude. Mir fällt ein Spruch des indischen Meisters Saraha ein: „Hier, in diesem meinem Körper sind die heiligen Flüsse. Hier gibt es die Sonne und den Mond und alle heiligen Pilgerplätze. Ich bin niemals in einem Tempel gewesen, wo ich so viel Glücklichsein erlebte wie in meinem eigenen Körper.“ Wie ich das zitiere, kommen uns die Tränen aus lauter Glück, und Tsering schluchzt vor Ergriffenheit, und es schüttelt ihn bis er wieder ruhiger wird und hemmungslos lacht und fröhlich umhertanzt.

Bild 37: auf dem Weg oberhalb von Tabo – die Luft wird warm

Ich frage Li und ihn, ob diese Reise gut für sie ist. Li steht wieder still da und besieht das schöne Tal. „ja, allein schon wegen dieses Blickes, ein Juwel in dieser rauhen und trockenen Landschaft. Und wißt ihr, es ist auch gut, nicht mehr immer am Rockzipfel einer starken Mutter umherzuwandern, sondern was Neues  . . . “ Erinnert Euch, Li´s Mutter ist als Nonne im Kloster am Manasarova-See geblieben.

Tsering sagt, „ja, gewiß ist diese Reise mit euch gut, nach all den Jahren in der Familie, mit den Kindern und den ewigen Pflichten mit den Tieren. Und diese ewig gleichen Weidegründe im Tschangthang, oh, du weißt ja gar nicht, wie ich mich immer wieder freue, mit dir diesen Weg gehen zu können. Hier weiß ich endlich, was es heißt, den Weg des Buddha zu gehen. Nicht, weil wir alle diese heiligen Plätze besuchen — wobei ich nie recht weiß, was das eigentlich ist, heilig. Sondern wir treffen so viele Menschen, die sich nach den Lehren Buddhas richten und viel darüber wissen.“

Ich wiederhole für die beiden, was uns einer der Hirten aus dem südlichen Tschangthang sagte: „ . . . Liebe und bedingungsloses Mitgefühl,“ (`Karuna´ sagte er für Liebe mit einem Wort aus der Sanskritsprache) „das sind die Ursache der Erleuchtung. Trenne deinen Geist nie davon. Diese Einstellung stimmt mit der Natur überein und ist für alle Zeiten richtig.“ Tsering, der dabei war, mußte überlegen, obwohl ihm dieser Text geläufig ist, er wird in Tibet immer wieder gesprochen, es ist hier eine Art spirituelles Bekenntnis, eine Kurzform der Einstellung dieser Leute. Der Hirte fuhr fort:

„Da wir nun dieses kostbare Leben als Mensch erreicht haben, müssen wir diese besondere Gelegenheit für die spirituelle Entwicklung nutzen, sonst kommt man nie wieder als Mensch auf die Erde. Das mag eine Übertreibung sein, aber nicht jeder wird als Mensch wiedergeboren.“ Tsering gestikuliert lebhaft so wie damals der Hirte seine Hände bewegt hat, ich kenne diese Art sonst nicht bei ihm. Tsering spricht diese Sätze langsam und vorsichtig weiter:

„Eine Wiedergeburt als Mensch ist sehr selten, noch seltener ist es, in Tibet wiedergeboren zu werden, und noch dazu als ein Schüler Buddhas. Wer alle diese Begünstigungen bekommen hat, sollte sie nutzen, um den Ozean des Leidens zu überwinden, dazu braucht man ein gutes Schiff. Das ist der menschliche Körper. Keine andere Daseinsform bietet ein so gutes Gefährt. Um es sicher zu steuern, gibt es die Lehre Buddhas. Nutzt man diese Lehre nicht und lässt sein Leben einfach so verlaufen, dann hat man diese seltene, glückliche Chance vergeudet, ja dann hat man sein Leben vergeudet.“


Um sich vor den herabrollenden Schottersteinen zu schützen, haben die Leute von Tabo Schutzmauern gebaut. Mir erscheint das lächerlich zu sein, nur menschenhohe Mauern gegen diese riesigen Schottermengen. Doch offensichtlich hift es. Immerhin ist diese große Fläche von Tabo schon sehr lange besiedelt, werden schon immer Gärten bebaut, und es entstehen immer wieder neue Tempel und Karawansereien. Unser Weg hinunter nach Tabo ist steil und geht über den losen Schotter, unsere Tiere haben es noch schwerer als wir, nicht abzurutschen — außer Wampi, der in jede Ecke läuft und rumschnuppert, wir wundern uns, was es in dieser Einöde zu riechen gibt.

In Tabo gehen wir in eine der Pilger-Karawansereien, ein ummauerter Hof mit ein paar Gebäuden für Waren, Tiere und die Leute. Es liegt viel Brennholz hier, von Karawanen aus dem Süden mitgebracht, zu jeder dieser Maultier-Karawanen gehören ein paar Maultiere, die das Holz tragen. Hier wird die Ware und anderes auf Yaks umgeladen, denn von hier aus verzweigen sich die Handelswege ins Gebirge, und da sind Yaks zwar langsamer aber sicherer.

In allen Dörfern dieser Gegend gibt es Gasthäuser für die Karawanen und Wanderer, und wegen des angesehenen Klosters sind in Tabo drei große Gasthäuser. Viele Menschen wandern diese Pfade entlang, abgesehen von Handelsleuten sind es meistens Pilger zu den wichtigen Stätten ihrer religiösen Kultur — immerhin hat Tibet einen guten Ruf als Quelle des Religiösen —, aber, wir erinnern uns: nicht wegen irgendeiner Religion.

Das Leben in der Karawanserei ist sehr vielfältig — so vielfältig wie Tserings Unterröcke, denke ich innerlich lachend. Einerseits sind da die einfachen Handelsleute und Tiertreiber, andererseits treffen wir die Pilger, meistens aus dem Süden, die dieses gesegnete Land Spiti aufsuchen — im Grunde, um sich selbst kennen zu lernen, doch das mögen sie noch nicht wissen. Übrigens, es ist in Spiti so warm, daß Tsering nur noch einen Unterrock tägt, den Rest hat er auf seine Dri geladen.

Da habe ich eine Skizze von der klaren Schlichtheit Tabo´s gezeichnet:


Bild 38: In Tabo diese schlichte Stimmung

Wir treffen da so trauige Leute, Li ist entsetzt, daß Menschen so leiden können. Eine Frau aus Arabien, sie hat sich eine Nonnenkutte übergezogen und meint, DAS wäre es nun, doch es ist so offensichtlich, daß es DAS noch lange nicht ist, sie spielt sich ein Theater der Selbsterkenntnis vor. Wir merken aber, wie sehr sie sich gefangen hat in ihre Ideen, so oder so zu sein — aber nichts von dem, was sie erleuchtet nennen würde. Sie steckt voller Zweifel, voller Ärger, voller Zorn und sogar Begierden.

Die langsamen Klänge einer indischen Sitar erfüllen die kleine Halle. Doch ich gestehe, was ich hier über unseren Besuch im Tabo Chökor [innerhalb einer Tempelanlage ist ein `Chökor´ ein Platz der Lehre, eine Akademie, in der das Rad der Lehre in Drehung gesetzt wird] schreibe, kommt mir einfach zu platt vor, ganz von mir unverstanden, die angemessene Sprache habe ich nicht, auch nicht die tiefen Einsichten  . . .  dieser Raum des Tsug Lhakang, vielleicht der Haupttempel dieses Klosters Tabo Chökor, ist voll von göttlicher Schönheit. Unser Eingang ergreift uns schon bevor wir eingetreten sind. Ein paar Pilger sitzen auf dem Boden, einige still versunken, andere die Bilder und Figuren bewundernd, beeindruckt von den sanften Farben und der weichen Stimmung. Weinrot und Dunkelblau sind die starken Farben hier, rot sind die Holzsäulen, die die Decke stützen. Diese besteht aus rot gestrichenen Balken, zwischen denen auf die Deckenbretter gemalte Ornamente und Bilder zu sehen sind.

Allerdings nehme ich an, daß nichts davon einfache Ornamente sind sondern alle eine Bedeutung haben, die vielleicht nicht in Worten ausgedrückt werden sollte sondern sich in Stimmungen ausdrückt, die den Pilger erfüllen.

Alles ist erfüllt von Gemaltem, der reiche Schatz der tibetischen Mystik, beginnend mit Buddha in vielen Aspekten, seine Lebensgeschichte, und seine Familie  . . .

Wie es für die tibetische Wesens-Pflege so wichtig ist, sind Dämonen dargestellt, aber am stärksten sind die 32 Figuren von Gottheiten. Sie sitzen auf ihren Lotossitzen und sehen von oben auf die Meditierenden hinab, in mildem Mitgefühl, und sie fordern mich auf, meine eigene Buddhanatur anzunehmen, zu erkennen, daß auch ich der Buddha bin − wie natürlicherweise jedes Wesen [wir Übersetzer benutzen auch hier dieses Wort Wesen statt Psyche oder Seele].

Am liebsten mag ich die rote Figur von Vajraratna, ein Bodhisattva, der mit männlicher, meditativer Yoga-Kraft herabsieht und mich schweigend mit göttlich-liebevoller Strenge ermutigt, endlich „mich frei zu machen von allen inneren Bindungen, und an diesem selben Tag soll ich mich auf die wirkliche Wanderschaft machen“ wie es ähnlich im alten indischen Naradaparivrajaka Upanishad steht (seht das Titelbild am Anfang von dieser Serie von Blogs "Mein Tibet": http://mein-tibet-organisation.blogspot.de/ ).

Und ich liebe die Göttin Vajralashya, die — wie mir eine Nonne andeutete — sich freut über die Erweckung der Herzen zur Buddhaschaft — ein so milder, mütterlicher Blick auf mich!
Und so gehe ich reihrum in der Halle, und die gesamten göttlichen Figuren stimmen mich still, zufrieden und fröhlich. Lange sitze ich dann, auch wenn andere Menschen kommen und gehen, sitze am Ende in einer dunklen Ecke auf einer kleinen Bank auf rotem Kissen. Bleibe allein nachdem abends die letzten gegangen sind, und ein Mönch meint, ich könne doch nicht die ganze Nacht hier sein ... doch ich lasse mich einschließen und wickele mich in eine dicke Decke — aber schlafen kann ich nicht. Bald setze ich mich wieder auf und höre nichts weiter als das Rauschen des Spitiflusses und ab und zu herabrollende Felssteine. Eine große Stille ist draußen und breitet sich in meinem Kopf aus.

In Nächten mit vollem Mondschein kommt das Mondlicht durch das gläserne Türmchen auf dem Dach, und nun erscheinen mir die Figuren und die Bilder sehr heimelig, ganz für mich, ich bin ganz allein mit ihnen — außer daß mal eine Ratte vorbeihoppelt, sich aufrichtet und an meinem Bein schnuppert.

Viele Tage geht es immer wieder ebenso. Unsere Li aber ist eher lernbegierig und geht durch die ganzen Tempel-Höfe, durch alle zugänglichen Räume, an allen Tschörtens vorbei und erweist ihnen Ehre. Und Tsering geht mit, die beiden kommen einander wieder näher nach dem verlorenen Knaben-Raufen jenseits der Hinalayas.

Und sie nehmen an Darshans teil, die ein paar Geshes geben, wo den Pilgern die Dharma-Unterrichtungen zuteil werden. Vielleicht werden Tsering oder Li oder ich nie wieder dieses Zentrum tibetischer Spiritualität besuchen. Ein so großartiger Ort — heißt es doch, daß Tabo in alter Zeit gleichwertig mit Tholing gewesen sei, die höchsten Plätze im alten Königreich Guge.
Ein alter Pilger aus Indien sagt mir nach meinen langen Tagen und Nächten im Tsug Lakhang „ich sehe, du bist so voller Segen, so wie es in der alten Katha Upanishad heißt: `nun sind alle Knoten deines Herzens gelöst, nun wird dir selbst heute, in diesem Menschenleben das Sterbliche unsterblich.´“

Im Traum treffe ich wieder auf den Eingang in die helle Höhle, in der der weite Raum aus farblosen Kristallen aufgerichtet ist, nun kann ich also hineingehen. Das ist es wohl: angekommen bin ich.

Und der Inder zitiert aus dem Isha Upanishad, „Wer die Einheit entdeckt hat, welcher Schmerz, welche Illusion können den noch erreichen?“ , und ich erinnere mich an den alt-tibetischen Spruch an der Felswand oberhalb von Sukhavati, der eigentlich von dem indischen Weisen Mahavira sein soll: „ . . .  ein Wesen, das seine Leidenschaften und Begierden abgelegt hat, das sich der Geheimnisse des Universums vollständig gewahr geworden ist — in ihm soll mein Geist für immer wohnen!“.

Es kommt mir so, daß ich hier einen dicken Strauß der reichsten Blumen in die offenen Arme gelegt bekommen habe, den ich in Zukunft an alle Menschen, denen ich begegne, verteilen werde. Und der nie seinen Blumenreichtum verlieren wird.

Nach langen Tagen verlasse ich mit den Kindern und unseren Tieren Tabo wieder und wir gehen langsam zurück in Tserings Heimat. Vor dem Tsug Lhakang liest mir ein gelehrter Mönch noch eine Inschrift vor, die in alt-tibetischer Schrift geschrieben ist: „Für alle jene, die der langen Reise müde sind, und für alle Wesen, die vom Leid getroffen wurden, die Freunde und Familie verloren haben — für sie alle wurde dieser wunderbare Tempel erbaut. Für sie alle haben wir diese Götter und Buddhas und Bodhisattvas gemalt. Und für alle singen wir immer wieder die heiligen Lieder des Milaraspa [Milarepa].“

Jemand erzählt mir, wie in den Zeiten der Chinesen viele Menschen über die Grenzen gekommen [Spiti war damals nicht unter chinesischer Herrschaft] sind, um ihre Seelen zu heilen, denn „ . . .  für alle jene, die der langen Reise müde sind, und für alle Wesen, die vom Leid getroffen wurden, die Freunde und Familie verloren haben — für sie alle wurde dieser wunderbare Tempel erbaut,“ — ein Segen für die Bewahrung der tibetischen Spiritualität während aller dunklen Jahre.

Eines von Milaraspa´s Liedern singt Tsering mir vor: doch ich weiß den Text nicht mehr, schade, denn alle haben sich gefreut. Doch wie er singt, haben wir ein eigenartiges Erlebnis, seine Stimme verlässt ihn plötzlich, er kann nicht mehr singen. Ich rate ihm, still zu sein, denn ich ahne, das ist der Beginn seines Stimmwechsels, und in dieser Phase kann es gut sein, die Stimme nicht zu überfordern. Nach etlichen Tagen ist alles vorüber, und er glänzt mit einer wunderbaren, tiefen Jünglingsstimme. Tsering hat nun das Bedürfnis, seine neue Stimme zu erproben. Er macht allerlei komische Töne, und wir sind erstaunt, was nun alles Neues kommt. Und dann fährt er mit Milaraspa´s Lied fort . . .

Wie er mir erzählt, ist das der Moment, wenn ein Junge die Jünglingsweihe bekommt, aber wir könnten das hier nicht tun. Deswegen wandern wir nach Keylong  . . .

Und im Laufe der nächsten Tage verstehe ich, was Milaraspa mit Reise gemeint hat, nicht nur der lange Fußweg von meiner Heimat zu diesen Tempeln, auch das innere Suchen. Bin ich nun endlich angekommen? Ist es dies? Es mag so sein, wenn ich an die Worte des indischen Pilgers denke. Und mir selbst ist es auch so. Etwas von außen sehe ich mir meine Seele an und erkenne, wie sie nun in sich ruht, anders als vorher. Dennoch, das Leben geht immer weiter, und — wie selbst Tsering sagt —, wir kommen nie an. Als Nomade hat er da seine speziellen Erfahrungen. Ich spreche mit Tsering darüber, und nach ein paar Tagen, an den Ufern der Himalaya-Flüsse, sagt er einmal nur, „ja, es ist so.“


12. Bericht: über Erleuchtung
Dieses Wort, Erleuchtung, habe ich aus meiner Heimat noch im Geist und frage immer wieder danach. Das ist schwierig, da sie hier kein Wort dafür haben. Im Sanskrit soll es Prakāsham sein, das Strahlende.

Erst soll das Wort erklärt werden, und dann will ich zeigen, was die Leute hier damit anfangen.

Erläuterung, was ich darunter verstehe: wenn der Geist eines Menschen ganz klar ist, unbelastet von solchen Vorstellungen, die nicht wirklich sind; unbelastet von Emotionen, die künstlich sind; unbelastet von Begierden, Lüsten und Verärgerungen, die keine unmittelbare natürliche Ursache haben, und wenn dieser Mensch das, was dann noch bleibt, unvoreingenommen, wach ansehen kann. Das könnte ich als einen erleuchteten Menschen bezeichnen.

Wie wir das im Westen sehen, fällt jeder Mensch in den 10 bis 20 Jahren nach der Geburt immer tiefer ins Unerleuchtete hinein. Und danach hat er die Chance, das alles hinter sich zu lassen und — oft nach langen Phasen der seelischen Reinigung und Zurechtrückung unter Schmerzen — der Erleuchtung immer näher zu kommen, vielleicht bereits erleuchtet zu sein, wenn´s ganz plötzlich gehen sollte, was denn zuweilen so kommen soll. Erleuchtung ist demnach — und das Wort drückt das ja auch aus — ein Vorgang mit einem Ziel oder guten Ende. Doch, obwohl wir West-Menschen uns seit langer Zeit mit den Lehren des Buddha beschäftigen, haben wir nur dieses sehr theoretische Konzept. Ich finde, es ist ein Konzept des Hier oder Dort, des Dualismus (`Dwaita´ würden sie in Indien sagen).

In Tibet aber sehen sie das anders, und ich verstehe deren Sichtweise so: hier werden alle Leute erleuchtet geboren, oder richtiger, sie werden gar nicht erst ins Unerleuchtetsein hinein `erzogen´ wie bei uns. Deswegen stellt sich hier die Frage nach Erleuchtung gar nicht erst. Für die Tibeter gibt es nicht diese krasse Trennung zwischen erleuchtet und unerleuchtet, alles geht ineinander über. Weil sie gar nicht erst in der Erziehung mit Fleiß die Kinder in unerleuchtete Positionen hineindrängen (wie das im Westen üblich ist, schon seit Urzeiten).

Nochmal etwas anders gesagt: nach tibetischer Meinung werden alle Menschen erleuchtet geboren, also ohne die Enschränkungen, die ihnen eine Erziehung auferlegen würde. Sie bemühen sich, daß die Kinder gar nicht erst ins Unerleuchet-Sein hineinrutschen. Darum kennen sie unser Problem nicht. Sollte dennoch ein Mensch unerleuchtet sein, empfinden sie das als eine geistige oder spirituelle Krankheit und behandeln ihn entsprechend, es ist eine Verwirrtheit, eine Unordnung im Geist.


Kapitel Dreizehn durch die einsamsten Länder − Tsering´s Heimat
Im folgenden Jahr ziehen wir durch die wilden und einsamen nördlichen Himalayas, verlassen dann dieses riesige Schneegebirge in Richtung zum Tschangthang. Noch helfen mir die Karten, die ich aus Sukhavati mitgenommen habe. Aber jenseits der Indus-Flusses kann nur noch Tsering führen. Zwar kennt er die Gegend auch nicht, aber er kann den nomadischen Tibetern die richtigen Fragen stellen.

Es ist erstmal Frühsommer, denn ich traute mich nicht, im Winter auf den Höhen der Himalayas zu wandern. Den Winter wollen wir in Keylong und Umgebung bleiben, einer Bauern- und Hirten-Stadt oberhalb des Bhaga-Flusses, oberhalb eines grünen Tales zwischen kahlen Felsbergen. Hier feiern wir endlich Tsering´s Jünglingsweihe:

Zuerst aber müssen wir aus dem Spiti-Land über den Kunzum La [= Pass-Straße] klettern. Dort oben finden wir einen der üblichen Steintürmchen, die die Leute an besonderen Plätzen bauen: jede Reisende legt einen Stein dazu. Hier aber war Besonderes: oben auf dem Türmchen, das so hoch ist wie mein Körper, liegen lauter Schädel mit Hörnern von Yaks, miteiander so verwickelt, daß sie nicht runtergeweht werden. Ich höre: die Männer legen die Steine, die Frauen die Hörner, „wie ein Triumpf der Frauen: seht, wir können doch höher reichen!“ sagt Tsering lächelnd, und Li dreht sich verlegen einmal um sich, sie reicht gewiß nicht da hinauf, als Chinesin ist sie ja noch kleiner als wäre sie eine Tibetin.

Dann den Chandra-Fluß abwärts, einige Tage Wandern. Und Einbiegen ins Bhaga-Tal, nordwärts.

Das Städtchen Keylong liegt auf dem gegenüberliegenden, dem westlichen Hang des Bhaga Flusses. Von diesem Hang des Tales sehen wir die Ortschaft liegen. Der Hang muß hinuntergeklettert, und der Fluß auf einer wackeligen Brücke überquert werden.

Wie an vielen Plätzen hier hat Keylong einen weiten Rundblick in die Täler und auf gezackte Schneeberge. Weit unter dem Ort, aber noch sicher über dem Fluß liegt eine Talterrasse, auf der zwischen Gärten Aprikosen- und einige Maronen-Bäume stehen, diese erst seit einigen Jahrzehnten hier angepflanzt. Aus den Maronen-Nüssen kochen sie eine feinen Brei, mit dem italienischen Namen Polenta nera bezeichnet. An manchen Stellen sind die Felsen bunt gestreift, mehr oder weniger senkrecht, und die Schotterhalden darunter wiederholen diese Farben, auch senkrecht, so wie die abgewitterten Steine nach unten rollen.

Bald danach ziehen wir nach Kardang, einem winzigen Hirtendorf, oberhalb des grünen Bhaga-Tales zwischen kahlen Felsbergen. Hier wird eine Jungfrauen- und Jünglingsweihe vorbereitet. Das geht, denn seit uralter Zeit gibt es ein kleines Kloster, das diese Tradition hat. Ein paar Mönche wohnen hier und geben jungen Leuten diese Weihen.

Für diese Tage trennen wir uns, denn die Jugend zieht für die Weihen in ein langes, tiefes Tal. Nur wenig berichtet Tsering mir später, hauptsächlich aber, daß das Ganze für ihn nicht so aufregend war wie für die Bauernkinder, „denn die Prüfungen waren nicht anders als unser tägliches Leben auf dem Tschangthang sowieso. Für die verweichlichten Bauernkinder hart, aber für Nomaden nichts Neues,“ spottet er grinsend. Und er sieht verlegen zu Li, merkend, daß sie sich mit dem Spott auch angesprochen fühlt, wegen „verweichlicht“.

Doch, doch einiges war nett, sagt sie: jede und jeder mußte etwas lesen, deklamieren oder singen — „damit wir erkennen, an den neuen Stimmen der Knaben, wer nun Mann, wer Frau ist. Die neue Trennung  . . .  oder? Doch es war natürlich ein Spiel, denn das ist ja sowieso klar.“ Eine Nonne und ein Mönch sprachen darüber, daß es nun neue Verantwortungen für die `jungen Erwachsenen´ gibt. Tsering meint, „Verantwortung übernehmen und tragen  . . . , doch das ist mir schon seit früher Kindheit selbstverständlich, nichts Neues. Es war alles eher für die Einheimischen hier, die keine Nomaden sind und kaum Herden treiben müssen.“

Dann gab es eine weihevolle Feier, „ . . .  nichts Großes, die Tage in Tabo waren viel, viel mehr. Doch nun bin ich erwachsen, ha, ha — was ist da anders, sag mal.“

Ich aber verkroch mich zu Leuten in einem Gehöft und half, Gerätschaften für den nächsten Sommer instand zu setzen, denn dann gehen einige junge Leute hoch auf eine Alm, mit einer großen Schafherde. Es mussten Schafe geschlachtet werden, was mir keine Freude machte, doch wie mir schon der Abt Ahimsa sagte, geht es in diesen Bergeshöhen nicht anders. Und Gerben, Kleidung schneidern und andere Dinge für den täglichen Gebrauch herstellen . . .  Dann im späten Frühjahr zieht alles los: die Hirten und Schafe auf die Almen, wir wieder rüber ins Spiti-Land und bis zur euch schon bekannten Schwebefähre.

Was ich im Folgenden beschreibe, hin bis zum Yarlung-Tal, ist geographisch ungenau und unzuverlässig, da es mir wegen der Kälte nicht möglich war, alle Tagebuchnotizen zu schreiben und zu zeichnen, die Finger waren oft zu klamm.

Aus dem Spiti-Land wandern wir — beginnend, wo die Schwebefähre steht — entlang dem Paré Tschu aufwärts bis zur Sommersiedlung Jambu, wo wir nach rechts dem Nebenfluß Sumkel Tschu folgen. Doch vor dieser Abzweigung vom Paré besuchen wir einen heiligen Platz am Ufer des eigenartigen, natürlichen Stausees am Oberlauf des Paré Tschu, der sich alle drei Jahre entleert, worüber ich schon berichtete. Hoch über dem See haben die Leute an einem Berghang eine Art Burg errichtet, um die Vorgänge in diesem See zu beobachten und schnell talabwärts zu melden, wenn der Damm zu brechen droht. Dieser Damm entsteht immer wieder durch Bergstürze, bei denen der Fluß durch große Massen von Geröll verschüttet wird. Dahinter sammelt sich das Wasser, und so vergrößert sich der See im Verlaufe der drei Jahre — bis er voll ist, den Damm zerbricht und sich der See entleert und zu Überschwemmungen talabwärts führt — wie ich es schon beschrieb. Und das Material des Dammes — also das ganze Gerölle — poltert mit dem Sturzwasser durch die Schluchten und Klamme, unter großem Lärm, wie mir die Wachleute auf der Burg erzählen.

Na ja, das ist so eine Naturbeobachtung, die ich nicht selbst erlebe aber erzählt bekomme. Für mich ist das Besondere die große Einsamkeit, in der die Leute dort wohnen. Vom Spiti-Land her gibt es den Pfad, auf dem zwei mal im Jahr eine Yak-Karawane mit Versorgung kommt — und mit ein paar Gästen. Ähnlich wie am Kailash ist dieses auch ein Ort der Stille und seelischen Heilung. Doch es sind nicht so sehr Tibeter, die kommen, sondern Leute aus Uigurien oder Kasgarien am Rande der Gobi-Wüste. Die tibetischen Wachleute bleiben hier drei Jahre, so lange wie eine Überschwemmungs-Periode dauert, doch ein Mann lebt hier schon 15 Jahre und will hier bleiben, und er zieht sich noch mehr in die Einsamkeit als die anderen, er vermag die Bewegungen von Fluß und Stausee zu spüren oder zu hören — und warnt die anderen. Dieser Mann ist ein Heiliger, die wenigen Pilger aus dem Norden suchen ihn, er ist ihnen ein Meister der Stille. Nichts sagt er, nach indischer Sprachweise ist er ein `Muni´, der immer schweigt. Wir bleiben in seiner Nähe für einige Wochen. Dann droht das Ende des Sommers, und wir ziehen weiter, Tsering hat nun Heimweh nach seinen Leuten und Zelten. Wir wollen die Höhen der Himalayas noch vor dem Winter überqueren.

Und Li? Sie ist gut versorgt mit dicker Kleidung, die auch die Dri trägt, wenn nicht Li selbst. Ich mache mir Sorgen, denn sie stammt aus einem recht warmen Gebiet Chinas. Die nächste Zeit wird es recht einsam werden, wir werden kaum Leute sehen, schon gerade keine Chinesen, denen es hier unheimlich ist, sagt Tsering. Schwierig wird es für Li, deren Körper noch so klein und zart ist, sich in der Kälte zu waschen und dergleichen. Wir stellen eine Wand aus Decken und Fellen auf, damit der Wind sie nicht auskühlt.

Unser Pfad geht von Jambu aus weiter über den Bodpo La, und das ist ein breiter Bergrücken, — rundherum ist es viel zu verfelst und zerklüftet um einen tiefer gelegenen Pfad zu finden, — doch auf dem Bodpo La ist es so leer und kahl und stürmisch, daß nicht einmal Bergdohlen, Murmeltiere oder Geier zu sehen sind. Nach der Erinnerung habe ich das Bild unten gezeichnet, doch richtet euch nicht danach, es sieht dort bestimmt ganz anders aus.

Bild 39: Übergang über den Bodpo La (Bodpo Pass)

Überhaupt ist es da auf dem La sehr kalt, und wir sind froh, genügend lange Pelze mitzuhaben, die bis auf die Füße reichen. Auch wickele ich mir ein langes Stück Pelz um Kopf und Hals und bin dem Tier dankbar, auf dessen Leib es ehemals wuchs. Drei Nächte müssen wir in dieser frostigen Gegend schlafen, und selbst Tsering zieht sich nicht aus, wenn wir uns zum Schlafen in die Pelze wickeln, und wir schlafen zusammen unter einem Pelz-Wickel und wärmen uns aneinander im Windschutz zwischen dicken Felsbrocken. Tee kochen ist unmöglich wegen der natürlichen Umstände: Wasser wird nicht heiß wegen des geringen Luftdruckes, und ich glaube, es würde wegen der Kälte und dem häufigen Sturm gar nicht kochen können. Aber Li ist tapfer und sagt, „ich wusste das ja und wollte mit euch laufen. Ein Abenteuer ist es doch, wird ja auch nicht lange dauern.“

Still sehen wir der untergehenden Sonne nach, und still sehen wir morgens der aufgehenden Sonne entgegen. Dieser Tag wird für uns warm, denn vom Bodpo La haben wir einen steilen, anstrengenden Abstieg in ein kleines Flußtal, wo mit etwas Grün und bunten Blumen der Platz Nupuk liegt, wo wir wieder nächtigen, es gibt duftendes Gras für die Tiere, und wir treffen eine kleine Handelskarawane mit Yaks, die unterwegs auf dem Weg vom Tschangthang nach Spiti sind um Edelsteine, Käse, Wolle und Salz gegen Brenn- und Bauholz einzuhandeln und die Pilgerplätze zu besuchen. Diese Leute lenken unsere Aufmerksamkeit auf eine Gegend im Tschangthang mit heißen Quellen, und wir nehmen uns vor, sie zu besuchen. Die Wege dahin seien schwierig, doch viel besser geworden als in früheren Jahrhunderten als sich die Reisenden über Felsschluchten und Gletscherspalten an Seilen schwingen mußten, sagen sie.

Doch noch sind wir im Himalaya-Gefels. Eigentlich wollten wir einen Weg direkt nach Thashigong [Zhaxigang] am Indus Tsangpo [= großer Fluß] nehmen, doch jemand sagt uns, daß es Felsstürze gegeben habe und der Weg schwierig und noch nicht wieder frei gemacht worden sei. So wandern wir vom Platz Deboche aus über den Charding La, der zwischen zwei Bergrücken liegt, und von da sehr steil hinunter zum Bazaar Demchok. Dieser Weg ist sehr abenteuerlich, da er durch eine dunkle Schlucht führt mit rauschendem Flüßchen neben und brüllenden Wasserfällen über uns.

Da diese Wasserfälle immer wieder große Steine mitführen, müssen wir sehr vorsichtig sein und sie zuerst eine Zeitlang beobachten, bevor wir ihren Auslauf kreuzen. Im Fluß tauchen die Wasseramseln, und es macht uns Spaß, das anzusehen, Li möchte vor Freude in die Hände klatschen, wenn eine vor ihr ins Wasser taucht, aber mit den dicken Handschuhen geht das nicht.

In Demchok, das am Indus-Fluß liegt, kommen wir auf einen gut gepflegten, breiten Karawanenweg, der von Leh, aber auch von Kashi [Kashgar] kommt, am Pongang Tso [Bangong See] entlang führt, an Thashigong [Zhaxigang] und an Garxincun vorbeigeht, durch das Gebirge westlich des Kailash-Berges und an Namru vorbei, die beiden Seen Rakshasa und Manasarova nahe dem Kailash passierend ins große Yarlung Tal und da entlang bis nach Lhasa führt. Er ist eine Karawanenverbindung von Turkestan nach Lhasa und weiter nach Tschentu [Chengdu] in Sitschuan [Süd-China], also eine eher beschwerliche Straße südlich von, und parallel zu der alten Seidenstraße. Bei Demchok aber ruhen wir ein paar Tage aus in einer Einsiedelei mit einigen Mönchen und Nonnen, in die eine alte Nonne uns einlädt, sie haben da auch eine Gästehütte und Wiesen für die Tiere. Hier ist es warm, weil heiße Quellen entdeckt wurden, die das Ländchen gut grün sein lassen, und unsere Felle liegen auf den Wiesen und lüften aus.

Hier treffen wir den Mann wieder, der über den Tod seines geliebten Hundes Nanók trauerte. Eine stille Trauer ist geblieben. "Das alles war mir eine große Lehre. Seit jenen Tagen hat sich in mir  viel Zuneigung und Liebe entwickelt — Liebe zu jedem einzelnen Wesen: Pflanze, Tier, Mensch. Ja sogar zu Wolken, Fluß, Licht, auch zu Gedanken, Gefühlen  . . .  ohne daß ich sie werte. Einfach nur Liebe. Das war die Lehre, die mein Nanók mir erteilt hat. Eine so schöne Lehre!

Weiter leitet uns der Weg erstmal nahe dem Indus-Ufer entlang, und so gelangen wir über Gar [Shiquanhe] nach Gakyl [Hapung] in das Gebiet wo Verwandte von Tsering einige Weidegründe nutzen.

Jetzt kommen wir in die Nähe der heißen Quellen. Einige Mönche wandern mit Tieren dahin, denn sie erwarten, dort seltene Pflanzen für ihr medizinische Kloster-Faktorei zu finden, sie wissen dort von alten Plätzen der Kräutersucher. Wir dürfen uns anschließen, und so trotten wir langsam am Schluß der kleinen Karawane nach Norden zu den Quellen, nur wenige Tage auf Pfaden über tiefen Schluchten und unter hohen Felsen auf Pfaden, die irgendwann mal in die Berghänge geschlagen wurden, aber noch immer schwierig, an schroffe Felsabhängen entlang geführt. Wer da nicht die gelernte Achtsamkeit der Tibeter hat  . . .

Doch in diesen Tagen erleben wir ein Drama, ein junger Mönch, ein frischer Junge, fast ein Kind noch, klettert im Übermut weit an einem Felsen hoch, verfängt sich aber mit seiner Kutte und stürzt ab auf den Weg. Er ist sofort tot, sein Schädel ist weit aufgeborsten, und das Gehirn liegt lose in der Schädelschale, sein hübsches Gesicht sehe ich daneben, alle sind starr, es ist nichts mehr zu helfen, um sein Leben zu retten. Doch einer der Mönche spricht für seine Seele die entsprechenden Verse des Bardo Thödol [Totenbuch]. Wir bleiben ein paar Tage an diesem Ort der Trauer und können später eine Strecke weiter auf einer kleinen Wiese zwischen den Felswänden ein Grab ausheben, nur ganz flach, denn darunter ist bald Fels. Dann werden ein paar große Steine darüber gewälzt. Jemand findet eine Staude blauen Eisenhut, die wir daneben setzen. Noch Tage danach zitiert jener Mönch täglich mehrere Male die Verse um der unvorbereiteten Seele den Weg durch´s Bardo zu erleichtern.

Die Kinder sind noch mehr erschreckt, und noch lange Tage ist keine Föhlichkeit mehr bei ihnen. Sie mochten den Jungen und haben viel mit ihm zusammen getan, und nun  . . .  sie weinen mehrere Tage immer wieder. Arm um Arm trösten sie einander und kommen sich sehr nahe.

Es wird sehr nebelig, und nur mit großer Vorsicht finden wir einen ungefährlichen Weg, obwohl an die Felswände farbige Wegzeichen gemalt sind. Auf einer Passhöhe ändert sich alles sehr plötzlich: eine Nebelwand bleibt hinter uns, und vor uns breitet sich ein sehr langes, tiefes und weites, sonniges Tal aus, das ich hier, mitten auf dem Tschangthang, nicht erwartet hätte: die Sonne scheint, und kleine Wäldchen und sehr grüne Wiesen liegen da unten. Wir rasten hier und ruhen von den kalten Wanderungen der Tage vorher aus. Das Tal ist umgeben von hohen und zackigen Felswänden, die — ähnlich wie ganz klein hinter dem Tempel von Sukhavati — das Tal vor dem Verlust der warmen Luft beschützen — oder vor dem Eindringen kalter Luft. Denn warm sind Boden und Luft durch die zahlreichen heißen Quellen.

Ich sitze am Rand des Tales und denke an den verlorenen Jungen, ein paar bunte Blumen wachsen da, und ich erzähle ihnen von meiner Trauer und bitte sie, für seine Seele zu blühen. Wieder kommen Tränen der Trauer, er war so fröhlich, er ist einige Male mit Li und Tsering und Walpi jauchzend vorausgelaufen, wenn ich unsere Dri führte — alles das ist lebendig vor meinen Augen.

Ein Serpentinenweg führt uns nach unten, und da liegt tatsächlich ein kleines Dorf mit staatlichen Beamten zur Bewachung dieses Tales und zur Verteilung der Sammelflächen an die Kräutersammler.

Hier also ist der Platz der heißen Quellen. Wo sie im Schatten entspringen, stehen kleine Nebelbänke, denn die Luft ist zwar warm hier aber nicht so warm wie die Quellwässer. Schon auf der Passhöhe ziehen wir uns fast alles aus wegen der Wärme, oder besser gesagt, wegen der Hitze. Einige weitere Sammelkarawanen sind hier, eine aus der Mongolei und drei aus dem inneren China, sogar eine aus Sibirien, sie sind alle von Norden her in dieses Tal gekommen. Dort ist der Eingang leichter.

Die aus Sibirien suchen besondere Kräuter, die sie für ihre schamanischen Reisen benötigen, und sie suchen andere, die sie zu einem kleinen Volk von Eskimos noch viel weiter im Norden bringen werden. Ich denke, dafür werden sie sich Felle einhandeln.

Eine der chinesischen Karawanen gehört zu einem taoistischen Volk im Westen Chinas, nahe der turkmenischen Grenze, wir finden große Ähnlichkeit zwischen den Kulturen der Tibeter und diesen Tao-Leuten. Die vollständige Freiheit des einzelnen Menschen ist beiden Kulturen von höchster Wichtigkeit, höher als die meisten anderen Lebensregeln. Ich denke, das ist der Grund für die hohe Kulturstufe dieser Völker.

Von einigen Bäumen in einem der Wäldchen holen wir Blätter und Rinde — allerdings sehr vorsichtig und sparsam von der Rinde, denn wir brauchen nicht viel, und wir wollen die Bäume nicht beschädigen. Wir kratzen mit einem Messer etwas Rindenpulver auf ein Stück Papier und schütten es dann in ein Fläschchen.

Manche hohe Bäume tragen große, rote Blüten, einige herabgefallene trocknen wir und pressen sie auch in Fläschchen. Mehr aber sammeln wir von den herabgefallenen Früchten, die aus einer zugespitzten, handlangen und -breiten Schote bestehen, in denen sich eine sehr angenehme Watte befindet. Alles trocknet an der Sonne sehr schnell, doch die Schoten öffnen wir hier nicht. Zwei Yaks werden nur mit dem Tragen dieser Schoten beauftragt. Diese Bäume haben zahllose dicke Dornen auf der Rinde, die manchen Tieren das Hochklettern erschweren, anderen erleichtern, vielleicht kleinen Schlangen, die sich zwischen ihnen hindurchschlängeln.

Wenn wir für den Heimweg die Yaks beladen, müssen wir die Lasten nach oben türmen, nicht an die Flanken, da die Pfade oft zu schmal sind zwischen den Felswänden.

Auch holen wir aus einer der Quellen — als Schwefelquellen bezeichnet sie einer der Mönche — gelbes Schwefelpulver, das sich am Rande des Quellbaches abgesetzt hat, davon füllen wir mehrere Beutel, eine ganze Yakladung. Und dann eben die Kräuter, sie werden in große Beutel gefüllt, die wir den Yaks auf den Rücken türmen — natürlich festgebunden.

In den Wäldchen leben kleine Antilopen und andere Tiere, auf den Wiesen weiden Hasen und auch diese Antilopen, sogar ein paar der tibetischen Esel sind aus den hohen Kälteweiden herabgestiegen, doch es scheint, sie wandern schnell wieder ab in die angenehmere Kühle. Die Wärme in diesem Wundertal ist ihnen wohl zu anstrengend, denke ich.

Mit unserer Mönchs- und Yak-Karawane wandern wir nach wohl zehn Tage wieder südwärts in die kalten Gebirgslande. Irgendwo dort müssen die Verwandten von Tsering ihre Weidegründe haben.  . . . wo das Land nicht nur aus Felsen und herabrollenden Steinbrocken aller Größe besteht, die der Frost vom Untergrund gelöst hatte, wie vorher auf unseren Wegen.

Wir kommen an eine kleine Siedlung mit einem winzigen Bazaar für die Hirten des Tschangthang, und für Reisende, denn es gibt hier auch Reiseproviant wie getrocknetes Fleisch und Decken.

Diese Siedlung liegt am Indus, dem wir noch ein paar Tage aufwärts folgen. Zwar treten an manchen Stellen die Felsen bis an den Fluß, doch meistens sind die Täler weit, und wir sehen bis tief zwischen die Berge in lange Täler hinein. Fast alles ist Schotter, alles ist weich und in beige Farben mit Rot, Lila, Orange und manchmal hellblau oder hellgrün, Pastellfarben würde ich sagen. Pflanzen-Grünes ist selten, nur dort, wo sie im Tal ihre Tiere weiden. Das Land sieht weich aus, nur in den Höhen sehen spitze Felsen aus den Schotterhaufen heraus. Mir scheint, dieses Land ist sehr alt und meistens verwittert und vom Frost zu Schotter zermahlen.

Tsering fragt herum nach seinen Verwandten und erfährt, daß sie viel weiter südlich ihre Weidegründe haben. Wir wandern weiter, denn dieser Ort hat uns nichts zu sagen. In einem weiten, fast ebenen Tal mit einigen kleinen Seen in der Mitte und hohen Felsbergen rundherum treffen wir nach vielen Tagen endlich eine Yak- und Schafherde, die zu seinen Leuten gehört. Wie wir von einer eisigen Passhöhe hinabsteigen, sehen wir die Tiere winzig klein in der Weite des Tales. Schwarze Pünktchen auf den weiten Flächen.

Im Tal fließt von einem See zum nächsten ein Fluß, und wir hören, daß er an dem reichen Bazaar Yagra vorbei schließlich in einen großen See fließt, und dieser See ist schon seit Ur-Zeit versalzen. An seinen Ufern hat sich das Salz angesammelt, und da es sehr rein und zum Würzen brauchbar ist, wird es zusammen geharkt, gesammelt und in Beutel gepackt und — wie ich schon früher beschrieb — mit Schafskarawanen nach Bengalen, aber auch nach nördlichen Ländern gebracht.

Tserings Verwandte ziehen Schafe dazu auf, und da das Ganze — die Schafe und das Salz — begehrt ist, sind die Hirten hier reich, und die Stadt auch. Handweber in dieser Gegend verarbeiten die Schafswolle zu wunderbaren, dicken, meist blauen Teppichen, in die Muster eingewebt sind, die verschiedene Fabeltiere darstellen, meistens Glücks-Drachen in chinesischem Stil, aber es gibt auch Teppiche mit Bildern des Buddha und vielen Heiligen. Die Teppiche sind klein, höchstens zwei Menschen können auf einem sitzen. Man legt wegen der Glücksdrachen gerne kleine Kinder darauf.

  Bild 40 und 41: Wolle-Färben, Teppich-Weber

Mir wird gesagt, daß früher solche Teppiche vom Hafen in Golkada [früher Calcutta] aus in viele Länder verschifft wurden — als die Menschen noch eine gute Hochseeschifffahrt hatten, was lange her ist. Heute werden sie auf dem Landweg auf Karawanen exportiert. Und das seltener als früher, weil die meisten Teppiche im Lande bleiben.

Wir treffen also Tserings Leute und bleiben lange Tage bei ihnen und helfen die Tiere hüten und umtreiben, und was dazu gehört.

Hier auf dem Tschangthang finde ich eine besondere Religiosität der Leute. „Wir sind so allein hier, da ist viel Zeit, sich um die eigene Seele und die Lehren des Buddha zu kümmern, und es ist schön, und in der Seele ist es warm,“ sagt ein Hirte.


Kapitel VierzehnDie Trennung
Weinend sitzen Tsering, Li und ich auf einem Berg. Unter uns liegt ein weites Tal, wo sich die Herden von Tsering´s Familie verteilen. Wir wissen, nun ist unsere gemeinsame Reise zuende. Tsering wird von seiner Familie gerufen, er soll Aufgaben übernehmen, er ist erwachsen und hat viel erfahren. Schluchzend lächelt er, „nun bin ich wohl ein Mann geworden, oder? Was da alles auf mich zukommen soll.“ Plötzlich wirft er sich auf den Rücken und wälzt sich im trockenen Gras und lacht laut und ein wenig nervös. Einmal bricht noch seine helle Kinderstimme kurz durch, doch dann ist es vorbei, die Kindheit ist nun ganz zuende.

Und Li? Die beiden sind sich nun sehr nahe, sie sollen sich bald trennen, und DAS ist der Moment, sich wirklich zu verlieben. Immer länger bleiben wir hier, bis  . . .

. . .  bis eines Tages Li sagt, daß sie hier bleiben will. Sie will mit Tsering und seinem Leben zusammen sein. Will Hirtin werden, Milch und Butter verarbeiten, Strümpfe stricken und — Leder gerben —alles, was dazu gehört, auch wenn es sie bei manchem ekeln würde.

Nach einer tiefen Verbeugung gibt Tsering seiner Mutter bescheiden den blau-grünen Stein, den er bei Zhanda gefunden hat. Sie nimmt ihn einfach in ihre rechte hohle Hand, die auf die linke gestützt ist, und lächelt ihren großen Sohn an, ich sehe ihren Stolz und ihre Liebe, aber sie sagt nichts. Vielleicht später in einem Zusammensein in ihrer Zeltecke. Bei der Verbeugung berührt Tsering ihre Füße und nimmt dann seine Fingerspitzen in Liebe an den Mund, küsst sie, sein Gesicht wird ganz rot, und er zittert. Dann dreht er sich verlegen um, begrüßt seinen Vater, dem er einen roten Stein aus einem der Gebirgsflüsse mitgebracht hat, unpoliert und ein wenig rauh.

Ein Bruder des Vaters, der daneben steht, erläutert mir diese Steine: „der blaue ist männlich, für die Frau ist er so fein poliert, so möchten wir Männer unseren Frauen gerne begegnen. Mit blauem, klaren, feinen Geist.“ Und was ist das Rauhe an dem roten Stein? „da möchte ich mal etwas überlegen  . . . Rot ist natürlich die Farbe des Weiblichen. Gelegentlich muß eine Frau rauh zu ihrem Mann sein. Dann nimmt der Mann den Stein in seine Hand und fühlt die Rauhigkeit und erkennt — vielleicht —, daß auch das Rauhe zu seiner geliebten Frau gehört, und daß er dieses Rauhe ebenso lieben will wie ihre Weichheit.“

Für Li ist das ein schwieriger Moment, gerne möchte sie den beiden Alten etwas darreichen, da fallen ihr ein paar Tücher ein, die sie in Spiti-Land bekommen hat, auch eines in Blau, eines in Rot, aus chinesischer Seide. Und die gibt sie Tsering´s Eltern, blau für die Mutter  . . .

Einige Wochen bleibe ich bei diesen Leuten, doch in dieser Zeit entfernen Tsering und ich uns immer weiter von einander. Das sind die Vorbereitungen auf den Tag, an dem ich einfach weggehe, weiter wandere ohne Worte, ohne mich umzusehen. Und ich weiß, auch diese feine Familie wird mir nicht nachsehen. So sind sie hier, und ich glaube, das ist sehr gesund. Walpi weiß nicht recht, wozu er gehört, schließlich läuft er mit mir. Die Eselin geht einfach mit, ohne Bemerkung.

Zurück gehe ich nach Sukhavati. Und in der Gemeinschaft, von der ich aufgebrochen war, bin ich heimisch und bleibe da — vielleicht bis zum Tod. An der Außenmauer in der Kleinsiedlung baue ich mir ein Häuschen, so, daß ich es vergrößern kann, wenn die Zeit ist. Eine Tür geht nach außen auf die Straße, und eine nach innen zu den Höfen und Gärten. Mehr über solche Kleinsiedlungen beschreibe ich im 13. Bericht: Familie. Die Tür nach außen brauche ich, da der Wandertrieb in mir sehr stark ist und wohl nie nachlassen wird. Selbst im Alter, wenn vielleicht die Beine nicht mehr so leistungsfähig sein werden, will ich `vor die Tür treten können´. Und werde mir wohl eine Bank hinstellen.

Mein Häuschen ist im tibetischen Stil gebaut und geschmückt, aber es ist nicht weiß wie die meisten hier sondern rosa — meine Lieblingsfarbe. Vielleicht male ich euch mal ein Bild davon.
Nein, eine `Trennung´ ist es nicht. Tsering lebt zwar weit entfernt von mir, doch in meiner Seele hat seine Seele einen großen Platz. Wir treffen uns an diesem Ort — unseren Seelen — immer wieder, und viel Freude ist in mir, wenn seine Seele erscheint. Andere Kinder kommen zu mir herein, und wir begegnen uns in Weicheit und Liebe, wie es mit Tsering und Li war. Ich glaube, sie können dankbar sein, daß die beiden mir das gezeigt und mitgegeben hat.

den letzten Abschnitt findet ihr hier: http://mein-tibet-sechs.blogspot.com/


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